Stil: deutscher Punkrock, Angry Pop Music Release: 17. April 2009 Label: Huck's Plattenkiste / Rough Trade Spieldauer: 12 Titel; 41:58 Minuten Anspieltipps: Ich Und So, Niemand Will Den Hund Begraben, Gute Aussicht
Es ist eigentlich immer ein gutes Zeichen, wenn einem schon die ersten Töne eines neuen, noch komplett unbekannten Albums beim ersten Hören, Wochen vor der Veröffentlichung, die Kinnlade herunterklappen lassen. Etwas ganz Besonderes ist es aber, wenn dies bei der einst erklärten deutschen Lieblingsband des Rezensenten geschieht, die dieser fast schon abgeschrieben hatte.
Aber dann schießen Muff Potter zur Eröffnung ihres neuen, siebten Albums Gute Aussicht mit der rohen Hymne Ich Und So aus den Boxen und der Rezensent fühlt sich wie weggeblasen. Der Sound klingt dreckig und rau - tatsächlich wurde die Platte im Studio innerhalb weniger Tage komplett live eingespielt - während Nagel schreiend seine Helden aus Literatur und Film aneinanderreiht, um dann festzustellen: “Ich bin nicht allein!“ Dass Muff Potter trotz wiedergefundener Rotzigkeit, aber die perfekten Popsongs nicht verlernt haben, zeigt sich direkt im Anschluss beim großartigen Rave Is Not Rave, dass ebenfalls straight nach vorne geht und durch eingängige Melodien und einen großartigen Text zu gefallen weiß (“Ich weiß ich sollte die Welt regier'n, doch ich bin einfach zu faul“). Überhaupt, diese Texte. Dass Nagel schon immer eine außerordentliche Beobachtungsgabe hatte, ist hinlänglich bekannt. Auch dass der Mann mit Metaphern spielen kann, wie kaum ein anderer ist kein Geheimnis, doch auf Gute Aussicht übertrifft er sich zeitweise selbst. Da ist zum einen der Refrain der Finanzkrisen- und Zukunftsangst Nummer Blitzkredit Bob in dem “der schönste Platz immer an der Hypotheke“ und die “Dispo-Disco eine aufregende Fete“ ist. Zum anderen verdient Nagel einen Orden für Niemand Will Den Hund Begraben, der wohl gelungensten Gesellschafts-Analyse aus dem Hause Potter seit Tristessa M, in der nunmehr “Rocco und Rico“ an der Bushaltestelle “Stadt - Land - Flucht“ spielen und die Generation Praktikum sich bereitwillig ausbeuten lässt, um vielleicht doch noch irgendwo etwas vom Kuchen abzubekommen.
Dabei weiß doch jeder: “Die Party Ist Vorbei“, auf dem Album live und laut eingesungen von einem 1000er Chor, bestehend wohl überwiegend ausgerechnet aus Mitgliedern dieser Generation Praktikum, vor dem letztjährigen Kettcar-Konzert in der Hamburger Großen Freiheit. Vielleicht ist es einfach genau diese Ironie, mit der Muff Potter ihre Songs auf Gute Aussicht endlich wieder würzen. Klar, der Vorgänger Steady Fremdkörper hatte auch seine guten Momente, doch nicht in einer Sekunde vermisst man die glatte Produktion. Im Gegenteil, in Songs wie den Uptempo-Nummern Ich Bin Charmant, Alles War Schön Und Nichts Tat Weh oder der bedrückenden Ballade Mein Freund Das Wrack, deren großartige Texte alle ein wenig mehr im Unklaren bleiben, findet sich der Hörer anscheinend deutlich besser wieder als bei Oma Rixdorf und den Finkelmännern auf dem letzten Album.
Vor allem zum Schluss fahren Muff Potter noch mal ganz dick auf. Da ist zunächst die schaurig-schiefe 90er Emo-Hymne Eiskunstlauf Ohne Ton und dann taucht, wie ein Hidden Track aus dem Nichts, als letzter Song das Titelstück Gute Aussicht auf, das in dieser Form wohl auch genauso auf Schrei, Wenn Du Brennst hätte erscheinen können. Da ist “Mitleid just a four letter word“ und “dein Aufprall wird härter als meiner sein“.
Muff Potter haben passend zur Zeit ein raues, oft düsteres Punkrock-Album aufgenommen. Es erscheint im Sommer und hat ein fröhliches Cover. Es vergisst nie den Pop, doch es kracht, knackt und scheppert allerorten. Musikalisch und textlich rast es vorbei am Majorlabel und erscheint wieder bei Huck's Plattenkiste. Denn es braucht den Gegenwind. Eine gute Entscheidung. Muff Potter und ich: ein altes Schauspiel, ein Katz-und-Maus-Spiel. Manches wird wieder normal.
Die Rückkehr zum alten, eigenen Label Huck’s Plattenkiste und damit die Abkehr vom Majorlabel ließ es erhoffen, nämlich eine Rückkehr auch in musikalischer Hinsicht. Jaja, der alte Klassenfeind Major Label, für die Verbrüderung mit dem selben mussten Muff Potter viele Schläge von dem Schlagstock der Szene-Polizei beziehen (welcher ist die Kredibilität in Frage zu stellen). Bei allem In-Fragestellen solcher Szene-Logiken muss man aber ja auch sagen, dass die Alben und Auftritte während der „Major-Zeit“ typisch waren und genauso, wie man sie erwartet hätte. Und nach dem Verlassen retten sie mal eben das Molotow (jedenfalls gefühlt) und leiten damit die Rehabilitation des geschundenen Images ein. Stehen die Vorzeichen also auf Back to the Future, eine Gute Aussicht, wobei sich der Albumstitel eher sarkastisch mit der derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Lage befassen dürfte. Andererseits: für eine Band wie Muff Potter ist solch eine Lage, Krise, blablabla, ja eigentlich tatsächlich paradoxerweise gut, denn wann hört man einer (gefühlten) Punkband denn zu wenn nicht in Zeiten von Angst und Ungewissheit? So sind wir thematisch auch dort, im Zeichen der Krise wird getextet, musikalisch ist es dagegen zwar nicht das Jahr 2000, also das Jahr der Bordsteinkantengeschichten, aber zumindest Sound-technisch das Jahr 2003, also das Jahr in dem gewonnen werden sollte. Damals wie heute wurde Live aufgenommen, was man hört und, so man diese Periode der Band besser fand als die darauf folgende, was man für gut befindet. Rau klingt die Stimme von Nagel, wie schon lange nicht mehr. Überraschend geht es auch los, mit dem Opener Ich und So, einer der am trocken rockendsten Songs der Bandgeschichte, mit schon fast psychedelisch anmutenden Stoner-Riffs, was überraschend gut funktioniert. Die vertrackten Hot-Water-Hommage-Gitarren gibt es aber darauf folgend wieder, na klar, und mit Rave is not Rave und Ich bin charmant erklingen zwei raue, schnelle Punk-Rock-Nummern. Bei letzterem heißt es „Eigentlich wollen ja alle nur Applaus / ich will es auch“ und beschreibt damit die Selbstdarstellungssucht des Lebens 2.0; bei dem schon im Vorfeld bekannten Blitzkredit Bop wird die Krise 2.0 dann besungen mit dem einprägsamen Refrain: „Der schönste Platz ist immer an der Hypotheke“. Da sind sie wieder, die kritischen, rau Wortspielenden Muff Potter aus den alten Tagen. Spätestens in der zweiten Hälfte des Albums vereint sich diese Seite aber mit der eingängig, um nicht zu sagen poppig, sich durchziehenden Indierock-Affinität. Wenn man heute auf ein Konzert von Nagel und Konsorten geht ist es ja auch eine andere Zielgruppe als damals, das spiegelt sich hier wieder (und Vice Versa). Heute geht man nicht mehr mit der Terrorgruppe auf Tour, sondern mit Kettcar. Auf einem der vielen Hamburg-Konzerte von letzteren wurde der Chor beim schönen Die Party ist vorbei aufgenommen. Im Grand Hotel Umkreis gar ist man also angelangt und produziert wurde das Album auch noch von Tomtes neuem Bassisten Nicolai Potthoff – Songs im letzten, ruhigen Drittel der Platte klingen auch stark nach Hamburger Schule auf Muff Potterisch. Bei Wie spät ist es, und warum? gibt es Streicher, beim akustischen Mein Freund, das Wrack ein Glockspiel-Intro. So als ob man innerhalb des Albums selbst die Entwicklung der Band nachzeichnen wollte, von rockig über rau und vertrackt punk-lastig zu melodiös und poppig, entwickeln sich die Songs. Reminiszenz an die alten Tagen drückt auch das beigelegte, schön mit DM-Preis ausgezeichnete auf Achtziger getrimmte Fanzine aus. Zwischen den vorne Pogo tanzenden Punks und den hinten Kopfnickenden und über die Texte diskutierenden Indie-Scheitel gilt es für Muff Potter heute zu vermitteln. Der Kompromiss ist gelungen. Über Start gegangen. Frei parken. Und auf der Schlossstraße die Hypothek.
-------------- The artist formerly known as Ulrich.
je mehr perspektiven desto besser ;) ich bin ja auch nicht so ein großer fan wie du, wenn dann eher von den ersten alben. aber hiermit muss man definitiv zufrieden sein.
-------------- The artist formerly known as Ulrich.
MUFF POTTER - GUTE AUSSICHT
