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+---Thema: Reeperbahnfestival 2010 Eröffnet von Ulrich


Beitrag von: Ulrich an 30. 09 2010, 22:27

Reeperbahnfestival 2010

Johnossi, Gonzales, Babylon Circus uvm.
23.-25. September 2010.
ca. 17.000 Besucher
Tickets: 59 Euro (3 Tage)


Das Reeperbahn Festival fand dieses Jahr bereits zum fünften Mal statt. Als eine Art Alternativ-Projekt zur Popkomm könnte man das Ganze bezeichnen: eine Musikmesse, nicht für die Bosse und gelackten Gornys dieser Welt, sondern für neue Musik und neue Konzepte. Vorbild des Ganzen ist bekanntlich das South by Southwest, und deren Kurs verfolgte man dieses Jahr noch konsequenter als zuletzt. Will heißen: Newcomer Gala statt Headliner-Wettbieten. Die letzten Jahre waren die deutlich größeren Namen dabei, dieses Jahr gab es dafür mehr Locations, folglich mehr Bands, und weniger Gruppen denen man den Headliner-Status zusprechen könnte.
Dadurch ging man bei gleich bleibender Besucherzahl – ungefähr 17.000 waren es letztes wie dieses Jahr – dem größten Problem der letzten Male aus dem Weg, nämlich die totale Überfüllung bei relativ wenigen Bands.
Ob die Musik darunter nun gelitten hat oder nicht sei dahingestellt. Irgendwas musste man jedenfalls machen, und als Festival, dass primär dazu gedacht ist um neue Bands kennen zu lernen, wurde die Maßgabe perfekt erfüllt. Für diesen Zwecke gibt es wohl kein besseres in Deutschland.
Erstmals gab es dieses Mal neben dem Musik- und dem Messeteil für die Musikindustrie – und Journaille auch einen „Kunst“-Teil. Der bestand vor allem aus einigen Street Arts-Aktionen, Musikdoku-Filmvorführungen (die man aufgrund den zeitgleichen Konzerten aber eigentlich nur als Couchpotatoe wahrnehmen konnte) – und dem ans Festival angegliederten Comicfestival. Letzteres war nur für ausgesprochene Comicfans interessant. Geheimtipp: Issak der Pirat, in Frankreich erscheint bald der sechste und letzte Teil der Serie.  
Ein Konzertbericht dieses Festivals muss zwingend zu knapp ausfallen. Man kann sich nur auf ein paar ausgewählte Bands konzentrieren und deswegen erlebt jeder andere Highlights. Das macht natürlich auch den Reiz des ganzen aus. Die Festivalgemeinschaft ist hier eine sehr abstrakte Vorstellung. Es gibt kein gemeinsames zelten, kein gemeinsames Feiern vor einer Hauptbühne. Es gibt 17.000 Gäste von denen man höchstens 3.0000 in den größeren Locations gleichzeitig zu Gesicht bekommt.
Meine subjektiven Eindrücke: Talking to Turtles sind für klassischen Indie-Songwriterfans ein Geheimtipp. Beam Me Up, Scottie, bald auch in eurem Jugendzentrum.
< > Talking To Turtles@Youtube >
Großartig Feierkompatibel sind Babylon Circus aus Frankreich. Frankreich will ja seine Roma loswerden – schade, denn die Gypsie-Einflüsse tun der Kultur der alten Madame hörbar gut. Verrückte Vögel, dadadai, Ska-Offbeat, Polka-Bläser und Folkattitüde. Bon Amelie, oulala, Monmatre, Baguette. Kennt einer den Helge Schneider Frankreich-Song ? Egal: Weltmusik im Tor zu Welt.
< > Babylon Circus @ YouTube >
Die Weltreise geht weiter auf die Faröer Inseln. Die kennt man ja sonst höchstens von dem sporadischen 12:00 in EM-Qualifkationsspielen; rein musikalisch hätte ich Kulturbanause einfach mal Island gesagt. Sorry, Frau Eivør Pálsdóttir. Ein Glück muss ich das jetzt nicht aussprechen, sonst müsste ich mich gleich noch mal entschuldigen.
Wer Island, Frau und Pop sagt, der sagt natürlich eigentlich Björk und so klang sie auch. „Wie ne Elfe“, halt’s Maul Klischee, aber wenn man so ein wehendes Fantasy-Kostüm trägt, die wallende Mähne schüttelt und so singt, ja was soll man denn denken, außer: da bedient jemand norsische Mythen. Vorher dachte ich bei der Beschreibung: ich weiß nicht ob ich mir so was zu Hause anhören würde, vielleicht wenn die Einladung meiner verrückten Nachbarn zu nem Rollenspiel mal annehmen würde (Konjunktiv Irrealis), aber Live hat sie mich ziemlich – sorry – verzaubert. Am meisten hat sie mich hier an alte Sachen von Lamb erinnert. Gorecki und solche Breitflächigen TripHop-Geschichten. Bald spielt sie die Hauptrolle in einer eigens auf die zugeschriebene Oper. So richtig überraschend kommt das nicht, oder?
< > Eivør Pálsdóttir @ YouTube >

Quasi-Headliner des Tages waren Johnossi, die eine recht handfeste Show ablieferten. Was will man mehr zu Johnossi sagen. Auf die Indie-Art tanzbar, aber das weiß man ja nicht erst seit diesem Jahr.
Letztes Jahr noch spielte José Gonzales ein gefeiertes Konzert in der übervollen O2-World, eine der größten und ekligsten Locations die man sich vorstellen kann, jetzt war er mit seiner neuen Band Junip gleich nebenan, im Bunker des Übel & Gefährlich, eine der sympathischsten Konzertlocations mittlerer Größte die man sich vorstellen kann.
Gut gefüllt war es ebenfalls, aber ohne die Unterstützung einer aus Film- und Fernsehen bekannten Coverversion (Heartbeats) eben auf einem angenehmeren Level.
Musikalisch ist Junip um nichts schlechter als Solo-Gonzales, ganz im Gegenteil. Mit der dezenten Psychedelik die auch einen Whitest Boy Alive auszeichnet hangelte man sich durch die Flächen und Formen einer stimmigen Musik. Nebelschwaden über den Augen, die einlullende Stimme von Gonzales ebenso in Loops agierend wie die Percussion. Rein musikalisch eines der Highlights des Festivals.
< > Junip @ YouTube >
Weiter konventioneller rockten die Hollänger von De Staad ein Bunker-Stockwerk höher im Terrace Hill. Harley-Mythen und Tatoo-Conventions, here we go. Hab ich schonmal irgendwo gehört. Das galt auch für Stornoway im benachbarten Knust. Köln spielte auf der Leinwand gerade gegen Hoffenheim. Interessiert euch nicht? Genau.
Ganz anders, jedenfalls geht es mir so, MIT.
Vor zwei Jahren waren sie schon mal auf dem Reeperbahn Festival, damals in einem kleinen Club direkt auf der Reeperbahn, übervoll und vor den Crystal Castles, jetzt im Übel & Gefährlich, mittelvoll und mittelgroß.
Mit neuem Album im Gepäck und einer Hype-Welle um die Mischung Elektrobeats + Deutsche Texte im Gepäck. Der neuen Nerd-Version des großen Pop-Entwurfs folgend – also unscheinbarer, nerdiger Frontmann zu elektronisch generierter Elektronik, so wie bei Whitest Boy Alive, so wie bei Hot Chip – waren Mit die Band, die am meisten dran war am typisch deutschen Minimal-Techno-Entwurf, der für Englandtouristen so zu Deutschland gehört wie die Beatles zum Kiez. Das neue Album wurde von Simian Mobile Disco produziert. Hymnisch, klare Flächen, „deepe Vocals“, wie man so schlecht sagt. Nicht so gut wie letzte Mal, heißt immer noch gut.
< > MIT @ YouTube >
Erdig Punkrockig mit Betonung auf der zweiten Silbe ging es bei Blackmarket im Grünen Jäger zu. Die Jungspunde machten mich fühlen alt wie Yoda. Der Amp kaputt, der Bassist unterhält mit Sprüchen und Soli. Mensch, genau wie früher. Ich rieche den Schweiß vergangener Rockkonzerte. Am Eingang fällt der Wodka aus dem Ärmel meines Kapuzenpullis, Schmuggeln gescheitert, weg nach heute.
< > Blackmarket @ YouTube >

Das gute an dieser Ecke des Kiez ist, dass es gute Clubs in Minuten-Takt gibt, aber man nicht den ganzen Reeperbahn-Porno-Jungegesellenabschieds-Schmonzes ertragen muss, der resident Hamburger am Wochenende eine große Biegung um diesen Bereich St Paulis machen lässt. Vom Jäger also wieder zum Knust, kurz PVT reingezogen, kein wirkliches Urteil sich erlaubend können außer, dass das unter Normalumständen ein wohl lohnenswertes Konzert sein könnte, aber gegenüber im Bunker spielen nun mal Schlachthofbronx und deswegen haben die Initialen da keine Chance.
Die Bazis mal wieder mit dem Konzert zur Feierei, irgendwie die Elektro-Variante der LabrassBanda, die am nächsten Tag spielen sollen: Bayern-Polkazeugs trifft auf Drum&Bass, Oktoberfest-Fahrgeschäfts-Dancefloor-Stumpfbeat, die tiefen Bässe von Dubstep.
Die Musik ist aber irgendwie nicht im Mittelpunkt. Man feiert sich selbst, und damit meine ich das energetischste Publikum des Festivals. Schuhplattla-Terror, Digga: dicke Hose im Schlachthof. Große Gaudi, die erste.
< > Schlachthofbronx @ YouTube >

Der genaue Gegenentwurf zu Schlachthofbronx stellten This Will Destroy You im Knust dar. Elegischer Postrock/Postmetal/Post-something mit den schönsten und erlösendsten Crescendi-Rhythmen der Saison. Eher für Isis-Jünger als für Godspeed-Fans gedacht sind This Will Destroy die Droge die das Kopfkino induziert, das einen in Urzeitmeere entführt, in die Kämpfe zwischen Licht und Dunkel, in genau die Ecken in man sich entführen lassen möchte. This Will Destroy You. This Will auf jeden den Partyabend zerstören, wenn man sich bis zum letzten hingibt.
< > This Will Destroy You @ YouTube >
Den Band-Abschluss des Freitagabends bildeten FM Belfast im Docks. Entgegen der Vermutung sie würden aus Nordirland kommen, sind sie tatsächlich eine isländische Band. Und entgegen den Klischees einer isländischen Band geht es bei ihnen um catchyness, um Mitsingbarkeit, um Tanzbarkeit, kurz: um Popmusik. Nichts Elfen, dafür auf die Zwölf.
Die Band hat einen langen Festivalsommer hinter sich, weswegen auch viele der anwesenden die Band in den letzten Monaten schon mal Live gesehen haben dürfte. Und wenn man das einmal getan hat, dann kommt man eben wieder. Ihr Entwurf von eingängigem Elektro-Pop mag nicht besonders innovativ mehr sein, aber er ist in seiner Konsequenz und leicht verschrobenen Art einfach so mitreißend wie ein isländischer Vulkan.
Da kann man nicht mal eine Pop-Coverversion von Rage Against The Machine’s Gassenhauer Killing In The Name Of übel nehmen. Der Hit überhaupt ist Par Avion, natürlich der letzte Song des Abend, in einer zehn Minuten Version, bei der alle am Boden knien, alle in die Luft springen, alle noch lange nach den letzten Takten von der Band die hymnenhafte Melodien gröhlen.
< > FM Belfast @ YouTube >
Als Abschluss des Freitags traten dann Friska Viljor im Rahmen eines DJ Sets in der Prinzenbar auf. Handfeste Indietanzfläche. Von The Cure über Weezer bis zu Vampire Weekends. Die beiden Viljors waren selbst stockbesoffen, mit halbnacktem Oberkörper zapplend und in ihrer DJ-Kanzel mit den vielen Groupies flirtend. Es wurde dann getanzt bis man ins Bett fiel, oder daneben, je nach dem Feierstatus.

Highlight des Samstags waren die bayrischen Karibiker von LaBrassBanda. Bayrischer Reggae-Ska-Something. Eine bebende Große Freiheit mit voller Auslastung. Eine der wenigen Bands dieses Jahr mit enttäuschten Gesichtern vor dem vollen Club.  C’est la vie. Oder eher : des passt scho. Ein Blasorchester als bayrischer Technoentwurf. Man muss kein Prophet sein um zu sagen, dass LaBrassBanda noch wirklich groß werden.  
< > LaBrassBanda @ YouTube >
Davor spielten die Band of Skulls erdigen Rock, Kristofer Aström bezirzte das Sitzpublikum in den Fliegenden Bauten genauso wie der verkopfte und großartige Hans Unstern. Und es gab noch viel mehr. Elin Ruth Sigvardssons Songwriter im Angie’s Nightclub zum Beispiel. Es ist notwendigerweise ein kleiner, subjektiver Eindruck der zurückbleibt, und das ist gut so, weil nur so die vielen kleinen Geschichten und Begegnungen passieren, zwischen Schanze und Landungsbrücken, zwischen Rock und Techno. Samstag Nacht, tanzen mit Kopfhörer auf dem Spielbudenplatz, alle zusammen, jeder für sich. Ein Sinnbild für die Reeperbahn.

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